Letzte Einkehr • Ein Tagebuchroman by Imre Kertész

Letzte Einkehr • Ein Tagebuchroman by Imre Kertész

Autor:Imre Kertész [Kertész, Imre]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783644550612
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-04-24T16:00:00+00:00


Morgens sieben Uhr. Aus dem nach Westen gehenden Fenster meines Turmzimmers sehe ich, wie es am Himmel über den Dächern Berlins zu dämmern beginnt. In der Ferne der goldschimmernde Funkturm, nicht weit davon ein Blinklicht, wie ein Leuchtturm im Hafen, weiter vorn macht sich die «Pyramide» (das Hochhaus in der Uhlandstraße) breit, grau, mit hellen Fensterreihen. Fünf Stunden Schlaf, von nachts halb zwei bis morgens halb sieben. Wahrscheinlich zuwenig. Da ich mit ständiger innerer Erschöpfung kämpfe. Ich versuche, den gestrigen Tag in Stichworten zu rekonstruieren (wobei ich nicht weiß, ob das nötig ist, ich weiß nicht, ob mich mein Trivialtagebuch nicht frustrieren und der Letzten Einkehr die Chancen verderben wird).

Also: Gestern morgen um zehn Lajos Koltai; er kam zu uns ins Penthouse. Zeigte die für den Film vorbereiteten Zeichnungen, Szenen und Figuren. Wir sprachen etwa anderthalb Stunden über den Film. In einer Woche beginnt er die Szene mit dem Abendessen zu drehen. Das Holocaust-Komitee hat, wie er berichtete, nicht ganz ein Fünftel der beantragten Summe zur Finanzierung des Films bewilligt, von irgendeinem Filmkomitee der Europäischen Union erhielt er jedoch überraschend eine mächtige Summe; das erstaunt mich nicht. Es herrscht eine merkwürdige Ordnung auf der Welt. Aber sie ist immer noch zu verstehen. (Zumindest meine ich, sie interpretieren zu können.) Mir scheint, Koltai hat eine entschiedene Vision von dem Film. Vorerst scheint die Gefahr des Sentimentalismus nicht zu bestehen. «Gefühlvoll, aber nicht sentimental», hieß unser Zauberwort. Koltai, mit seinem runden, einnehmenden Gesicht, seiner schmalrandigen Brille, seiner Erzählfreude und seinem stets zu Rührung geneigten Gemüt ist wie der Bote einer vergnügten Gottheit, als Trost für all die Schlechtigkeit, die in der Welt um sich greift. – Dann brachen wir auf, fuhren mit dem Taxi zum Sony-Center, wo die Pressekonferenz begann. M. immer und überall mit mir. Acht oder zehn Journalisten, vielleicht auch ein paar mehr. Ich fürchte, ich habe zu sehr betont, daß der Film kein Holocaustfilm wird. Man könnte es mißverstehen und glauben, daß ich die Wurzeln meines Werkes «verleugne». Gleichwie. Wir aßen dort zu Mittag, es hieß, daß auch in Budapest noch eine Pressekonferenz stattfinden müsse, und ich dachte mit Bangen an mein ohnehin überladenes Budapester Programm, besonders im Hinblick auf die Reemtsma-Rede, mit der ich noch nicht einmal angefangen habe.

Gegen halb vier waren wir wieder zu Hause, um vier kam Besuch (Sharon, M.s Freundin aus dem Chicagoer Büro in Brüssel). Von den drei Sprachen – Englisch, Französisch und Italienisch –, die sie für die Unterhaltung anbot, spreche ich zu meiner Schande nicht eine einzige. Nach einer halbstündigen Höflichkeitsfrist ging ich hinauf in mein Turmzimmer und tat, als arbeite ich, in Wahrheit döste ich ein bißchen. Abends um sieben Uhr Dr. H. und Frau, die M. nach Berlin eingeladen hatte. Abendessen bei Dressler, in meiner Verzweiflung und Zerstreutheit verspeiste ich sechs Austern. H. hielt heldenhaft mit und gestand, diese Meeresdelikatesse zum ersten Mal in seinem Leben zu probieren. Auf dem Heimweg über den Kurfürstendamm kommt heraus, daß Parkinson eventuell doch nicht die richtige Diagnose sei. H. zufolge fehlen zwei Symptome: das schlechte Laufen und das wächserne Gesicht.



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